Werwölfe, Hexen und Teufel – von der Sagensammlung zum digitalen Archiv (14.02.2019)

Noch bis in das beginnende 20. Jahrhundert waren Sagen alltäglicher Gesprächsinhalt der weniger gebildeten Bevölkerung. Wie Märchen und Gruselgeschichten gehörten auch die Sagen zum Alltag der Menschen in Stadt und Land. Volkskundlern, wie Richard Wossidlo (1859–1939) in Mecklenburg, ist es zu verdanken, dass die Vielfalt dieser Überlieferung in der örtlichen Mundart, nah an den Erzählern, aufgezeichnet wurde. Um den Erhalt und die Vermittlung europäischer Sagenarchive kümmert sich nun ein internationales Forscher-Team. Partner auf deutscher Seite ist dabei die Wossidlo-Forschungsstelle für Europäische Ethnologie gemeinsam mit dem Institut für Informatik der Universität Rostock.

Zur Zeit der Niederschrift durch Wossidlo wurden die Geschichten über Hexen, Werwölfe, Teufel, Wiedergänger, Zwerge, Kobolde, Riesen, kopflose Reiter und gespenstische Frauen als Teil der Wirklichkeit geglaubt. In ihnen spiegeln sich Alltag und Ängste, Werte und Sprache, Weltbild und Schöpfertum damaliger Bevölkerungsteile wider. Die Sagen machen auch an Ländergrenzen nicht halt. All das macht die Sagentradition für die Forschung so interessant.

Der internationalen Forschung sind die Erzählarchive jedoch aufgrund sprachlicher Barrieren verschlossen. Daher lag es nahe, ein internationales Onlinearchiv zur Sagenüberlieferung zu begründen. Die dazu erforderlichen Projektgelder in Höhe von 600.000 Euro konnten unter der Federführung des Meertens-Instituts in Amsterdam, der University of California in Los Angeles sowie eben der Wossidlo-Forschungsstelle und dem Institut für Informatik der Universität Rostock eingeworben werden. Das Projekt mit dem Namen ISEBEL (Intelligent Search Engine for Belief Legends) läuft von 2017 bis 2020.

Die Rostocker Wissenschaftler agieren dabei bundesweit als Pioniere digitaler Folklore-Archive. Bereits 2002, als die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde in Rostock tagte, stellte das Team von Dr. Christoph Schmitt die Projektidee vor. Die Wossidlo-Sammlung mit zwei Millionen Einzelbelegen sollte in vernetzter Form im Internet frei zugänglich gemacht werden. Deshalb haben die Rostocker Ethnologen und Informatiker 2010 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz das umfangreiche Zettelwerk digitalisiert, verfilmt und online gestellt (siehe www.wossidia.de).

Weil das Speichern, Verwerten und Sichern in sogenannten Graph-Strukturen ein Forschungsgegenstand am Lehrstuhl für Datenbank- und Informationssysteme der Universität Rostock ist, kamen die Rostocker Informatiker früh mit ins Spiel. Allen voran Dr. Holger Meyer. Er und sein Team verfügen über jahrelange Erfahrungen in den digitalen Geisteswissenschaften (Digital Humanities).

„Die lange Kooperation trägt Früchte“, unterstreicht Dr. Petra Himstedt-Vaid von der Wossidlo-Forschungsstelle. „Geisteswissenschaftler verstehen Informatiker und umgekehrt.“ Das sei das Erfolgsrezept. Täglich wachse die Anzahl der maschinenlesbaren Texte und ihre digitale Erschließung. Ziel ist die Einbindung von ca. 34.000 Sagentexten aus Mecklenburg einschließlich der Daten zu den Erzählern, ihren Berufen und vielen weiteren Informationen. Mit dem niederländischen und dänischen Erzählmaterial wird die internationale Datenbank ca. 100.000 Sagen umfassen, die übergreifend elektronisch durchsuchbar gemacht und mehrsprachig dargestellt werden. Island, Schweden, Norwegen, Estland und Portugal wollen später ebenfalls ihre Sagen in ISEBEL einspeisen. Wer möchte, erfährt umfangreich etwas zu den Erzählmotiven, beispielsweise auch, bis zu welchem Zeitpunkt an die vermeintliche Hexe im Nachbardorf geglaubt wurde, die den Kühen angeblich die Milch versiegen ließ.

Das Rostocker Wossidlo-Archiv ist im internationalen Vergleich einzigartig, da sämtliche Originalbelege in dem virtuellen Archiv dargestellt werden. „Den klassischen Volkskundler interessiert der Variantenreichtum der Sagen, ihre stoffliche und sprachliche Vielfalt, den modernen Ethnologen auch die Erzählerdaten. Wir liefern beides“, unterstreicht Dr. Schmitt.

Die an der Wossidlo-Forschungsstelle traditionelle komparatistische Erzählforschung (Folk Narrative Research) sei eine internationale Disziplin, nah am Menschen. Auch so lasse sich ablesen, welche Probleme die Menschen haben. „Insofern ist unsere Forschung über das mündliche Erzählen im 19. Jahrhundert auch heute noch relevant“, erklärt Dr. Schmitt. Heute würden Erzählungen über soziale Netzwerke weitergegeben. Deshalb erforschen die holländischen Wissenschafts-Kollegen auch aktuelle Internetquellen.

Text: Wolfgang Thiel

Quellen und weitere Informationen:


Zurück zu allen Meldungen